Florentina Holzinger über ihre Arbeit TANZ, Geschlechterrollen auf der Bühne und wie man die Grenzen immer weiter verschiebt. Ein Gespräch mit Christof Seeger-Zurmühlen
– 18. Juni 2021
TANZ von Florentina Holzinger, eine Koproduktion des asphalt Festivals, ist am 30. Juni, 1. und 2. Juli im D’haus Central zu sehen. Die Produktion ist eines der meistprämierten Stücke im deutschsprachigen Raum 2020: Es wurde u. a. zum Theatertreffen eingeladen, in der Kritikerumfrage von ›Theater heute‹ zur Inszenierung des Jahres gekürt und war für den deutschen Theaterpreis ›Der Faust‹ nominiert. Zudem erhielt Holzinger den Nestroypreis für die beste Regie.
Christof Seeger-Zurmühlen: Welche Themen stehen bei der Produktion TANZ im Fokus?
Florentina Holzinger: Es geht spezifisch um das romantische Ballett und die Repräsentation von Weiblichkeit auf der Bühne. Ich habe einen relativ großen Cast an Frauen aus unterschiedlichen Disziplinen um mich – im Gegensatz zu den Arbeiten davor, die hauptsächlich Duette waren.
Christof Seeger-Zurmühlen: Sprichst Du damit auch das Thema Repräsentation von Frauen auf der Bühne an?
Florentina Holzinger: Ich versuche mich wirklich abzusetzen von diesem Wort ›Frau‹, auch weil uns das ein bisschen angehängt wurde, dieses ›Frauen-Feminismus-Label‹, was kein schlechtes ist. Aber mir geht es eher um Konstruktion von weiblicher Identität als darum, nur Frauen auf der Bühne zu haben. Das wird oft in einen Zusammenhang gesetzt mit dem, dass wir uns männlich dominierten Dingen annähern, wie zum Beispiel dem Gewichtheben in der Produktion ›Apollon‹. Ich stehe dem etwas kritisch gegenüber, das so in einen Topf zu werfen, weil wir ja alle in einer Zeit aufgewachsen sind, in der solche Sachen eben jenseits von Geschlecht existieren können und auch sogar im Mainstream schon viel akzeptiert sind. Im Moment drücke ich es gerne so aus, dass wir uns mit der Konstruktion von Weiblichkeit auf der Bühne beschäftigen und nicht mit Frausein an sich – weil: Was bedeutet das schon?
Christof Seeger-Zurmühlen: Geht es dabei darum, gesellschaftliche Konstruktionen zu hinterfragen?
Florentina Holzinger: Ja, genau. Geschlecht ist nicht zwangsläufig etwas, mit dem man geboren wird, sondern es ist eigentlich eine gesellschaftliche Konstruktion, durch die man in gewisse Muster reingesteckt wird oder reinfällt. Das traditionellere Theater ist auch voll von diesen Mustern, und wir setzen uns auf der Bühne damit auseinander. Deswegen nehme ich mich gerne Traditionellem wie dem Ballett an, weil hier das Verhältnis so schwarz-weiß ist. Ich frage mich: Auch wenn wir jetzt in dieser Zeit leben und alle ein sehr offenes Geschlechterverständnis haben – wie können denn solche Kunstformen noch auf den klassischen Bühnen oder den Opernhäusern stattfinden, ohne kommentiert zu werden? Und deswegen habe ich mich des Kommentars angenommen.
Christof Seeger-Zurmühlen: Also ist der Ansatz, Traditionen kritisch zu hinterfragen, die sich über die Jahrzehnte, Jahrhunderte entwickelt haben?
Florentina Holzinger: Ich nenne es gerne ›Analyse‹. Mich interessieren Mechanismen und Transparenz im Allgemeinen. Daher kommt auch die Faszination für das Ballett: dass die Dinge, die normalerweise nicht vor dem Auge des Betrachters erscheinen, in Erscheinung treten sollen, dass man die wirklich beleuchtet. Und dazu gehört bei einer Tänzerin zum Beispiel das Training, um ihre Form zu erreichen. Oder das Training, das ein Sportler macht, um eine gewisse Form zu erreichen. Das sind alles Konstrukte von Körpern, und es lockt mich, die zu analysieren und da gewisse Themen herauszuarbeiten. Gerade beim Ballett wird immer mit der Illusion geliebäugelt und so Dingen wie Schwerelosigkeit und diesen ganzen Konzepten. Es hat mich bei TANZ interessiert, transparent zu machen, was die Übung dafür ist. Es geht aber nicht nur um Kritik im Sinne von einer Betrachtung aus einem negativen Standpunkt heraus, also wie zum Beispiel das klassische Ballett den weiblichen Körper zugerichtet hat, sondern dass man das auch trotzdem als eine lustvolle Beschäftigung sehen kann. Und für mich ist genau dieses Thema interessant: die Selbstkontrolle der Tänzerin. Ein sehr komplexes Thema, gerade in der derzeitigen Diskussion. Da geht es etwa darum, wie man für sich selbst Entscheidungen treffen kann, also in Bezug auf die eigene Praxis, aber auch wie man seinen Körper präsentieren will oder mit diesem umgehen will. Also wer sagt einem jetzt, dass man den Körper nicht auf so eine Art und Weise disziplinieren kann, weil es nicht gesund ist? Und nehmen wir auch die Arbeit auf der Bühne: Da ist für die von außen schauende Person nie wirklich transparent, was jetzt die notwendigen Schritte sind, die jemand tut, um wohin zu kommen und ob das für diese Person ein gutes Erlebnis war oder ein schlechtes. Es sagt nichts über die Konditionen aus, unter denen die Stücke produziert wurden. Das sind Sachen, mit denen wir gerne spielerisch umgehen.
Christof Seeger-Zurmühlen: Du lässt Dich zunächst von Menschen aus unterschiedlichen Szenen wie Tattooing, Piercing oder Branding inspirieren. Wie entsteht dann ein künstlerisches Konzept?
Florentina Holzinger: ›Apollon‹ war dafür ein klassisches Beispiel. Ich habe mir diese ›Sideshows‹ auf Coney Island angeschaut. Wo Leute so Dinge machen, die schockieren sollen und die auch viel mit Schmerz verbunden sind. Für mich war völlig klar, dass da nicht wirklich viel Unterschied ist zwischen der Arbeit dieser Pain Artists und dem, was eine klassische Ballerina mit ihrem Körper macht. Natürlich nicht im Sinne von gewaltverherrlichend, aber dass das einfach nur eine gewisse Art ist, den Körper so zu trainieren, dass er imstande ist, solche Sachen auszuführen, die für Ottonormalverbraucher unerreichbar scheinen – aber eben auch nur scheinen.
Christof Seeger-Zurmühlen: Im Endeffekt hast du völlig recht. Wenn ich ein:e Leistungssportler:in bin, meinen Körper diszipliniere und dann durch die Wüste renne, einen Marathon mache, oder was auch immer, dann muss ich mich ja unglaublich fokussieren, konzentrieren. Ich nehme an, das machen deine Künstlerinnen auch, wenn sie Ringe in den Körper implantiert bekommen und daran hochgezogen werden. Ich kann dabei zusehen, unter welcher Spannung und Konzentration das abläuft. Meinst du dieses Phänomen, wenn Du von Disziplin sprichst und wie weit man durch spezielles Training gehen kann? Du kannst deinem Körper sehr viel zumuten, mehr, als wir manchmal glauben?
Florentina Holzinger: Ja, das ist die Macht im Training oder das ist der Sinn und Zweck von Training – im Falle von Ballett, aber sogar von diesen ›Sideshow‹-Sachen. Das sind gewisse Arten von Techniken, die teilweise wirklich schon über Jahrhunderte entwickelt wurden und die man lernen kann. Dabei geht es darum, den Körper an gewisse Dinge anzunähern. Sport ist da am explizitesten, wenn man sich das Training von einem Sportler anschaut. Ich will aber nicht über die Grenze gehen, sondern ich will die Grenze verschieben – so, dass es eben auch möglich ist, andere Sachen mit dem Körper zu machen. Das mit der Suspension ist jetzt natürlich ein bisschen eine andere Story, weil das nicht etwas ist, das man physisch jeden Tag trainiert, sondern das ist eher eine mentale Vorbereitung, würde ich sagen.
Christof Seeger-Zurmühlen: Ein kluger Mensch hat mal gesagt: Kontakt entsteht auf der Grenze. Fängt es da an für dich interessant zu werden?
Florentina Holzinger: Mir ist nicht so ganz klar, was genau diese Grenze sein soll, weil diese Grenze ja keine fixe Linie ist. Aber ja, das war schon immer mein persönliches Interesse, gerade in Bezug auf den Körper einer Tänzerin: Wie kann man mehr sein als nur diese physische Schale? Und wie kann man auch Tanz dafür nutzen, dass man da mehr wird als jetzt nur der Körper? Es geht um dieses »We lead to take it serious to be more than human in a certain way, or to attempt to be more than human« – was mit der Sinnfrage des Lebens zusammenhängt, nehme ich an. Am ›Kunst machen‹ ist schon interessant, dass man seine Fantasie dahingehend entwickeln kann: Ja, da ist mehr!
Christof Seeger-Zurmühlen: Absolut. Es hört sich danach an, dass du nicht über Technik arbeitest, sondern ganz stark nach Impulsen suchst, die durch Improvisation in Aktion treten, die Du Dir vorher nicht überlegen kannst. Bist du eine Choreografin, die aus dem Moment heraus entwickelt und inszeniert?
Florentina Holzinger: Ich bin schon ein Fan von Technik. Und als Choreografin liebe ich an sich schon den formellen Zugang. Auch wenn das vielleicht nicht so wirkt für Leute, die meine Shows sehen, ist da eigentlich recht wenig improvisiert. Und es geht mir schon sehr viel um Komposition.
Christof Seeger-Zurmühlen: Etwas ganz Existentielles in deinen Arbeiten ist die Berührung, dass man den Körper des anderen umarmt. Deswegen meine Frage an der Stelle: Wie sehr hat dieser Kontakt gefehlt, wie sehr fehlt er zurzeit? Wie arbeitet ihr konkret? Und auf der anderen Seite: Wie sehr fehlt der Kontakt zum Publikum, wenn wir über Kontakt sprechen?
Florentina Holzinger: Grundsätzlich ist es so, dass ich diese Covid-Pause als eine gewisse Art von Pause verstehe. Eigentlich habe ich das immer in meinem Arbeitsrhythmus, diese extrem sozial geballten Zeiten, die sich abwechseln mit Phasen von Loneliness und Rückzug. Das war jetzt aber eine ausgesprochen lange Phase. Und am beunruhigendsten war, dass man eben nicht wusste: Ist das eine Pause oder ist das jetzt der Dauerzustand? Aber das mit dieser Kontaktlosigkeit, das ist mir sowieso schon als Arbeitsrhythmus oft ganz recht. Zwischendurch bin ich gerne über eine gewisse Periode so richtig sozial unterernährt, damit ich es dann wieder cool finden kann, mit Leuten so intensiv zusammenzuarbeiten. Jetzt gerade bin ich seit einem Monat wieder voll in den Proben drin, und das hat mir schon extrem getaugt, muss ich sagen, wieder so mit anderen Körpern Experimente zu machen. Das ist die Arbeit, die ich mache. Wir kommen gemeinsam ins Studio, ich habe gewisse Sachen vorbereitet, die ich ausprobieren will und die ich selbst auch noch nie ausprobiert habe. Und dann experimentieren wir und probieren Sachen aus. Dinge, die ich mir überlegt habe in meiner Einsamkeitsphase, die bekommen dann Körper, und das finde ich extrem cool. Eigentlich noch wichtiger als die Shows, die man dann hat. Diese Probephase mit anderen Leuten habe ich schon vermisst. Und im Moment, hier in Österreich zumindest, ist es so, dass Proben wie normal ablaufen, wir können alles machen. Deswegen ist man dann sehr schnell wieder in seinem normalen Arbeitsrhythmus, der immer schon ein Ausnahmezustand war. Da hat man gewisse Regeln, die man befolgt, um eben außergewöhnliche Sachen machen zu können mit anderen Leuten. Und ob das jetzt mit Covid ist oder ohne, da kommen dann einfach noch andere Regeln dazu. Das macht nicht so einen Unterschied.
Christof Seeger-Zurmühlen: Wie stark beeinflusst die Auseinandersetzung mit Communities Deine Arbeit oder was heißt die Auseinandersetzung mit Communities überhaupt?
Florentina Holzinger: Generell kommt meine Inspiration wirklich von allen möglichen künstlerischen Disziplinen, und mein Zugang ist ein sehr interdisziplinärer. Das ist auch wichtig für mich. Und das hängt dann eher zusammen mit dieser Community-Frage. Also ich betone immer, dass das, was ich mache, eigentlich nicht Community-Work ist, weil es Kunst ist, und es soll nicht so einen sozialen Zweck erfüllen. Die Theater- oder Tanzarbeit ist für mich ein Community-Making. Gerade wenn man größere Produktionen schmeißt, da entwirft man dann auch Communities. Und das finde ich gerade auch so interessant, so als utopische Ansätze. Und definitiv ist mir wichtig in dieser Interdisziplinarität, dass ich mit unterschiedlichsten Leuten aus unterschiedlichsten Bereichen, nicht nur Bühnenleuten, Konversationen führe zu bestimmten Themen, die mich gerade interessieren. Wenn ich mit anderen Communities arbeite, dann auf jeden Fall auf der Bühne.
Christof Seeger-Zurmühlen: Du arbeitest mit Profis, die in ihrem Bereich dann die nötige Expertise mitbringen.
Florentina Holzinger: Gerade in Bezug auf den Körper kann man ja viel weiter schauen als eben nur in den tänzerischen Bereich. Da interessiert mich wahrscheinlich viel mehr, was Leute machen, von denen ich noch nicht viel auf der Bühne gesehen habe.
Christof Seeger-Zurmühlen: In der Kultur ist die Einordnung in Sparten ein Thema. Ist es jetzt Tanz oder Performance, ist das Sprechtheater oder ist es dieses und jenes? Damit wirst du doch sicherlich Tag und Nacht konfrontiert. Hat sich da über die Jahre etwas verändert? Ist das etwas offener geworden, nehmen diese Zuschreibungen ab und freust Du Dich, dass es eher um die Frage von Kunst geht und nicht mehr um Zuschreibung? Gibt’s da überhaupt Entwicklungen, wie würdest du das beschreiben?
Florentina Holzinger: Das war natürlich so ein bisschen auch der Joke an diesen Preisen, die ich da letztes Jahr gekriegt habe, diese Theaterpreise oder sogar Regiepreise, weil ich mich selbst nie als Regisseurin gesehen hätte. Aber ich meine, die sind bedeutungsvoll, indem offensichtlich diese Sparten aufbrechen und plötzlich Konversation darüber möglich ist, dass das eben auch Theater sein kann. Die Unterscheidung dieser Sparten interessiert mich gar nicht, auch nicht, mich da in so Labels reinzupassen. Ich meine, es ist wahrscheinlich nur, weil es so vintage ist, dass ich mich gerne dem Tanz zuordne. Ich nehme an, weil Tanz immer mit körperlichem Skill zusammenhängt und ich damit auch gerne spielerisch umgehe. Und weil natürlich für mich der Körper schon dominant ist in der Arbeit, im Gegensatz zum Text oder solchen Sachen, dass der Körper einfach mein Hauptmedium ist. Aber das bedeutet nicht, dass nicht die Tänzerinnen auch eine Stimme haben können.