Choreografin Amanda Piña über ihre Recherche in den Straßen von Matamoros für die Stückentwicklung von ›Frontera | Border‹, indigene Wurzeln und die politische und soziale Kraft von Tanz.
– 15. Juni 2022
In ›Endangered Human Movements‹ (›Vom Aussterben bedrohte menschliche Bewegungen‹) befasst sich die mexikanisch-chilenisch-österreichische Choreografin Amanda Piña mit traditionellen Tänzen und Bewegungsfomen, die seit Jahrhunderten existieren, heute aber vom Verschwinden bedroht sind. Bei asphalt N° 10 ist der vierte Teil des Langzeitprojekts zu erleben, ›Frontera | Border – A Living Monument‹.
Die Choreografie basiert auf einem Tanz aus dem Viertel El Ejido Veinte in Matamoros, Tamaulipas, an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten. Die Gegend wird von Gewalt und Drogenhandel beherrscht. Hier führen junge Menschen auf der Straße den ›Danza del Ejido 20 de Matamoros‹ auf – ein Tanz, der ursprünglich von den Spaniern erfunden wurde und den Sieg der Christen über die Mauren darstellte. Während der Kolonisierung Lateinamerikas wurde er zu einem rassistischen Propagandainstrument, das den Unterschied zwischen Weißen und Nicht-Weißen klarmachen sollte. Die indigene Bevölkerung wurde gezwungen, den ›Mauren‹ zu verkörpern, während die Christen Spanien repräsentierten. Über die Jahrhunderte entwickelte sich dieser ›Eroberungstanz‹ weiter, bis hin zu einer Form des Widerstands gegen koloniale und später neoliberale Kräfte.
Hier schreibt Amanda Piña über ihre Recherche in den Straßen von Matamoros für die Stückentwicklung von ›Frontera | Border‹, indigene Wurzeln, Narco-Poetik und die politische und soziale Kraft von Tanz.*
Rodrigo de la Torre, der Leadtänzer von ›Danza del Ejido 20 de Matamoros‹, verwendet als Metapher gerne Computerspiele, um zu erklären, wie der Tanz in den Straßen von Matamoros aufgeführt werden soll: »Zu Beginn von ›La Matraca‹ (›Maschinengewehr-Sequenz‹) bist du wie ein Rennwagen mit vollem Tank. Wie in einem Computerspiel. Während der Sequenz wird der Treibstoff verbraucht und am Ende der Sequenz ist der Tank völlig leer. Man muss mit seiner Energie während des Tanzes haushalten: Wenn du dich während einer Sequenz verausgabst, bist du am Ende jedes Mal tot, wenn du alles gegeben hast. Deshalb laufen wir nach der Sequenz, um den Tank wieder aufzufüllen. Nachdem so viele Tanks geleert und wieder aufgefüllt wurden, sind wir am Ende wie ›Mariguanos‹ (Marihuana-Raucher), ohne geraucht zu haben, der Tanz ist wie unsere Droge.«
Rodrigo nutzt starke Metaphern, um den Tanz zu beschreiben. Er wird im Grenzgebiet praktiziert, in dem die Gewalt, die aus dem Drogenhandel, der Militarisierung und der amerikanischen Medienkultur resultiert, täglich allgegenwärtig ist. (…) Dieser Tanz findet nicht in einem Theater statt, sondern auf den Straßen und Plätzen, und er ist keine Arbeit im Sinne einer ›professionellen‹ Tätigkeit. Man könnte ihn als ›traditionelle Kunstform‹ verstehen, doch Kategorien wie ›zeitgenössisch‹, ›modern‹ und ›traditionell‹ beschreiben seine Komplexität nicht annähernd. Im Verlauf dieses Tanzes, der nur von männlichen Mitgliedern der Arbeiterklasse praktiziert wird, entsteht etwas außerhalb der Tradition und des modernen bzw. zeitgenössischen Kanons der westlichen Kunst. (…) In der Tanzsequenz ›La Matraca‹ fungiert die Visualisierung des Rhythmus einer abfeuernden Schusswaffe als Beispiel für die Konstruktion einer neuen Mestizen-Körperlichkeit. (Anm.: Mestiz:in ist die Bezeichnung für Nachfahren von Europäer:innen und der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas. Sie gilt als rassistisch und diskriminierend. Da jedoch keine Ausweichbezeichnung existiert, wird sie in bestimmten Kontexten noch verwendet.) Sie ist eine Form des Widerstands gegen einen gewalttätigen Grenzkontext, das Paradoxon eines globalisierten neoliberalen Kapitalismus, in dem die Zirkulation von Kapital und Waren auf die Stagnation trifft, die den Körpern der ethnisch definierten Menschen aufgezwungen wird.
»Irgendetwas wirklich Schlimmes muss diesen Männern passiert sein, um so tanzen zu können.«
– Leonor Maldonado, Filmemacher und Choreograph
In ihrem Buch ›Borderlands / La frontera: The New Mestiza‹ schreibt Gloria Anzaldua: “In the ethno-poetics and performance of the shaman, my people, the Indians, did not split the artistic from the functional, the sacred from the secular, art from everyday life. The religious, social and aesthetic purposes of art were all intertwined.”
Ich möchte versuchen, drei Dinge damit in Verbindung zu bringen: das Soziale, das Ästhetische und das Heilige aus der Perspektive des Körpers im ›Danza del Ejido 20 de Matamoros‹, wie er heute an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten getanzt wird. Anschließend werde ich die zentralen Fragen skizzieren, die die Produktionen ›Danza y Frontera‹, die ich im Tanzquartier Wien im Oktober 2018 in Zusammenarbeit mit den Tänzern von Matamoros und Nicole Haitzinger entwickelt habe, sowie ›Frontera | Border – A living monument‹ im Auftrag des Kunstenfestivaldesarts 2020 und die soziale Skulptur ›Frontera Procesión‹ aufgeworfen haben. All diese Stücke entstanden im Zusammenhang mit dem vierten Teil der Studie ›Endangered Human Movements‹.
Der soziale Aspekt
Die Männer tanzen den Tanz von Matamoros in ihrer Freizeit, die meisten betrachten es als eine Art Hobby – als Freizeitbeschäftigung außerhalb der Arbeit in den Drogenkartellen oder der Maquila-Industrie, den beiden wichtigsten Wirtschaftszweigen in der Region. Als Maquila werden die Montage-Fabriken bezeichnet, die von multinationalen Unternehmen auf der mexikanischen Seite der Grenze zu den Vereinigten Staaten angesiedelt werden. Dies ist eine Industrie für billige Arbeitskräfte, denen die Bildung von Gewerkschaften ausdrücklich untersagt wird. Viele der Tänzer sind Mitglieder oder ehemalige Mitglieder des Kartells La Maña. Einige ziehen es vor, in der Maquila-Industrie zu arbeiten, wo sie in 12-Stunden-Schichten einen Lohn von etwa 50 Euro im Monat erhalten. Andere sind auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen in die Vereinigten Staaten ausgewandert, wie im Fall von Rodrigo. Junge Männer aus der Arbeiterklasse sind oft als Sicarios, als Auftragsmörder für die Kartelle tätig, und selbst wenn sie es nicht sind, werden sie von der Gesellschaft als solche angesehen.
»Wir tanzen, um etwas anderes zu sein als Maña, um etwas anderes zu sein als Sicarios.«
– Uriel Soria, genannt Koala, Schlagzeuger, Tänzer und Mitglied von Rigos Gruppe
Im Hinterhof von Rigos Haus finden die Proben statt, und die Männer treffen sich zum gemeinsamen Tanz. Die Choreographie wird meist unisono getanzt, wobei die Trommler auch als Chor fungieren. Wenn der Tanz auf der Straße aufgeführt wird, folgen die Tänzer den Handzeichen des Leadertänzers, um zu wissen, welche Sequenz als nächstes kommt. Gesellschaftlich gesehen ist der Tanz ein Raum der Einheit, des Gleichklangs, der Zeichensprache und der nonverbalen Kommunikation für eine andere Darstellung der Männlichkeit der Arbeiterklasse in der Öffentlichkeit. Man könnte den Tanz als einen Raum der brüderlichen Gemeinsamkeit interpretieren. Zur Findung der eigenen Identität werden die Rollen, die die jungen Männer anhand des sozialen Kontextes an der Grenze zugewiesen bekommen, unisono aufgeführt werden.
Die Ästhetik
Der dritte Einfluss, der sich im Tanz widerspiegelt, ist die angloamerikanische Medienkultur. Die Darstellung junger Männer aus der Arbeiterklasse in den Medien, die Ästhetik des ›Coolen‹ in der Hip-Hop-Kultur und in medialen Darstellungen wie Hollywood-Actionfilmen oder Computerspielen sind als Spuren im Tanz zu finden. Dieses Bestreben, cool zu erscheinen, hängt auch mit der Ästhetik der Chicanos zusammen. Den Gringo (Weißen) zu imitieren bedeutet, zu ihm zu werden, seine kulturellen Codes zu verschlingen und sich von der folkloristischen Idee des ›Mexikaners‹ zu distanzieren. Dies führte vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte zu rassistisch definierten Schemata, die in beiden Ländern nach wie vor präsent sind.
»Wir wollten tanzen und in der Hood cool aussehen.«
– Uriel Soria
Auf die Frage nach ihren Kostümen sagt Rigo: »Wir wollten cool sein. Wenn wir die Huaraches und die Federn des Matachines-Tanzes anziehen würden, würden wir lächerlich aussehen und die Mädchen würden sich über uns lustig machen. Aber wir wollten trotzdem tanzen und wir wollten tanzen wie in der Hood, wie die bösen Jungs, die gefährlichen Jungs, die wir sein wollten. Also sind wir nach drüben in die Vereinigten Staaten gefahren, um Nikes und T-Shirts und Mützen zu kaufen, und wir haben die Kostüme und den Tanz verändert, um ihn zu etwas Eigenem zu machen.«
Dieses Gefühl der Coolness lässt sich auch an den Tanzbewegungen selbst ablesen – dicht am Boden, wie in einem Versteck. Wie Diebe oder Dealer aus der Nachbarschaft, die sich in den Ecken der Stadt verbergen. Die bodennahe Pose ist eine Haltung, die an indigene Tanzpraktiken erinnert, aber gleichermaßen auch afroamerikanische Merkmale wie ›on the ground beats‹ aufgreift. Sie tanzen wie Hip-Hop-Helden, wie Gangster, wie Mariguanos (Marihuana-Raucher).
Der Tanz könnte als Raum für ihre Identifikation mit jenen rassistischen Schemata interpretiert werden, die den ›Indians‹ und ›mestizos‹ durch die folkloristische Darstellung der Nation auferlegt wurden, sowie als ein Prozess geradezu kannibalischer Aneignung der Merkmale des Anderen.
Das Heilige
Im alten Mexiko-Tenochtitlan hatten die beiden Wörter für Tanz, Macehualitztli und Netotilitztli, unterschiedliche Bedeutungen. Während Netotiliztli sich auf einfaches Tanzen bezog, bedeutete Macehualitztli auch, eine Art von Buße zu tun. Das Wort Macehua, die Wurzel von Macehualitztli, beschrieb einen mystischen Tanz. Durch das Tanzen erhielt man die Gaben und Gnaden der Gottheiten und heiligen Wesen, die die Welt bevölkern. Darüber hinaus wurde das Wort Macehualli verwendet, um die Mitglieder einer Klasse zu bezeichnen, die über den Sklaven und unter den Adligen stand. Macehualli leisteten Militärdienst, zahlten Steuern und arbeiteten im Kollektiv. Sie konnten Eigentum besitzen, freie Menschen heiraten, freie Kinder haben und relative Freiheit genießen. Sie hatten das Recht, ein Stück Land zu besitzen, solange sie es bewirtschafteten, das dann an ihre Kinder vererbt werden konnte, wenn sie es auf die gleiche Weise bearbeiteten. Sie durften es aber nicht veräußern oder als Pfand für ein anderes Gut zu geben, denn sie waren lediglich Nutznießer des Grundstücks.
Dieses System des Landbesitzes, calpulli genannt, ist die Wurzel der mexikanischen Ejidostruktur, die aus der Landreform während der Mexikanischen Revolution hervorging. Sie beschreibt eine spezifische Form des gemeinschaftlichen Landbesitzes bäuerlicher Gemeinden, bei der die Mitglieder der Gemeinschaft bestimmte Parzellen bewirtschaften und gemeinschaftliche Betriebe unterhalten.
Matamoros ist ein Arbeiterviertel, das auf Ejido-Land errichtet wurde. In den Bewegungen des ›Danza del Ejido 20 de Matamoros‹ finden wir Spuren der heiligen und gemeinschaftlichen Funktionen, die der Tanz in vorspanischen, kolonialen und modernen Kontexten hatte. Kommunale Organisationen, die mit indigenen sozialen Strukturen vor dem Ejido verbunden waren, sind heute von der neoliberalen Logik der Ausbeutung, Rassifizierung und Kriminalisierung betroffen.
Als Formen des Widerstands sind Opfer und Liminalität zentrale Aspekte des Tanzes von Matamoros, der als Prozessionstanz soziale, religiöse und mestizische Pilgerriten zu heiligen Stätten begleitet, die heute im Kontext des Christentums stehen. Die Kontinuität der heiligen Stätten und Tempel, die von den Spaniern zerstört und später christianisiert wurden, aber an denselben Orten verblieben, ist gut dokumentiert. Es gibt auch eine Kontinuität der Tänze, die christianisiert wurden, aber weiterhin an denselben Orten und auf denselben Pilgerwegen aufgeführt wurden.
Bei diesen Prozessionen fungieren die Tänzer und Trommler als Unterstützer der Mitglieder der Gemeinschaft, die um die Gaben der Gottheit (in diesem Fall katholische Heilige) bitten oder sich für bereits gewährte Gunst bedanken. Die Hauptgottheit ist in diesem Fall eine Mestizin, die eine Kreolisierung der vorchristlichen weiblichen Gottheiten und der historischen Mutter Jesu, der Jungfrau von Guadalupe, verkörpert. »Wir tanzen für die Jungfrau von Guadalupe«, sagt ein anderes Mitglied der Tanzgruppe. »Sie soll uns also beschützen.«
Meine These wäre, dass der sakrale Aspekt des Tanzes als eine Form der Kontinuität der physiologischen (liminalen) Funktionen gelesen werden könnte, die indigene Tänze in der vorspanischen und kolonialen Zeit hatten. Diese liminalen Funktionen sind widerstandsfähiger als die wechselnden Ideologien und Machtstrukturen, die die Tänzer im Laufe der Geschichte zum Ausdruck bringen mussten.
Tänze an der Grenze innerhalb der Festung Europa
Die Performances von ›Danza y Frontera‹ sind eine Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Tänzern, die nicht aus dem Kunstkontext kommen und auch nicht aus Europa, um eine Reihe zu schaffen, die die Komplexität und die Verflechtung von Identitäten in einem Prozess der Desidentifikation berücksichtigen.
Dieser Prozess beschreibt die Dekonstruktion eines Modells, das auf einer dualistischen Logik beruht, wie zum Beispiel das Eigene und das Fremde, das Zivilisierte und das Barbarische, das Moderne und das Traditionelle, das Lokale und das Migrantische. In dem Konzept der Mestiza als Grenzsubjekt, das in mehr als einervielschichten Welt lebt, ist demnach kein Platz für binäre Identifikationen.
Als Mestizin, die in Wien und Mexiko-Stadt lebt, bin ich mit der Art und Weise konfrontiert, wie ich als Latina wahrgenommen und identifiziert werde, als Migrantin in Europa und als Einheimische in Chile und Mexiko (ich besitze beide Nationalitäten). Diese zugewiesenen Identitäten sind nie vollständig oder rein. Als Künstlerin und Tänzerin werde ich in Europa als dunkelhäutig wahrgenommen, während ich in Mexiko als ›güerita‹, blasse Frau, wahrgenommen werde. Meine Identitäten sind vielschichtig. Es ist schwierig, sie in Kontexten vollständig zu verkörpern, in denen erwartet wird, dass man eine ist und nicht viele. In diesem Sinne ist das Mehr-als-eine-Sein, das Vielfältig-Sein, nicht den Formen der Repräsentation dienlich, mit denen eine einzige Perspektive vertreten und verkörpert werden soll, zum Beispiel nur einen Nationalstaat zu repräsentieren. Nur mexikanisch oder österreichisch oder chilenisch zu sein.
Zu einer Einheit zu werden, ist eine westliche Konstruktion der Einzigartigkeit, die in starkem Gegensatz zu indigenen Formen fließender und prozesshafter Identitäten steht und die sich stark auf das Konzept der nationalen Grenzen stützen. Diejenigen, die mehr als eine sind, die im Fluss sind, leben innerhalb und jenseits bestimmter konstruierter Grenzen. Man ist anders, je nachdem, auf welcher Seite der Grenzen man sich befindet. Man ist immer kontextabhängig.
Das Bedürfnis, die Grenze zu überschreiten, entsteht durch die bloße Existenz einer Grenze; der Impuls der Menschen, sich zu bewegen, bestand schon vor der Grenze. Auf diese Weise wird der Versuch bekämpft, die menschliche Bewegung zu domestizieren, zu disziplinieren und zu normalisieren. Die Figuren des ›Migranten‹ und der ›Mestizin‹ werden durch die Politik der Migration oder der kolonialen Aneignung definiert. Als Metaphern führen diese beiden Figuren neue Modelle der Darstellung von Subjektivitäten jenseits einer binären Logik ein und schlagen eine Utopie der Heterotopie vor. Die Feier der vielfältigen Identitäten, die von Grenzsubjekten verkörpert werden, jenseits von Essenzialismus, findet in Anzalduas ›neuer Mestiza‹ einen Ausdruck, der die heteronormative, patriarchale Ordnung in Frage stellt.
Von Amanda Piña
*Es handelt sich um eine gekürzte Fassung, hier ist der Originaltext in englischer Sprache veröffentlicht.