Warum Regisseur Amir Reza Koohestani nach dem Scheitern der »Grünen Bewegung« und von »Woman Life Freedom« im Iran mit dem Laufen begann, wie sein weltweit gefeiertes Theaterstück »Blind Runner« entstand und was ein Marathon mit Widerstand und Freiheit zu tun hat.

Amir Reza Koohestani gilt als einer der bedeutendsten iranischen Theatermacher seiner Generation. In Deutschland arbeitet er u. a. an den Münchner Kammerspielen, am Deutschen Theater in Berlin und dem Thalia Theater.
»Blind Runner« ist die Eröffnungsproduktion des asphalt Festivals 2025 und ist am 8. und 9. Juli 2025 im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses auf persisch mit deutschen und englischen Übertiteln zu sehen.

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Im Winter 2009 im Iran, nachdem die »Grüne Bewegung« abgeflaut war, nachdem die Regierung auf die Demonstranten mit Schüssen reagierte, die Menschen allmählich daran verzweifelten, ob ein Wandel im politischen System des Landes überhaupt zu erreichen sei, und von der Straße zurück aufs Sofa krochen, begann ich zu laufen. Für mich war das Laufen eine Alternative zu den Demonstrationen, die nicht mehr stattfanden, und zur Freiheit, die wir zum x-ten Mal wieder verloren hatte. Um den Bildern der Polizisten und dem Geruch von Tränengas zu entkommen, die sich in meinem Gedächtnis festgesetzt hatten, lief ich auf einer Straße, auf der man hinter den Metallzäunen die aufstrebende Klasse des neuen Geldes sehen konnte, die sich ihren Lebensunterhalt unter Umgehung der westlichen Sanktionen verdient hatte; sie spielten in ihren Mußestunden unbeholfen mit importierten Nicht-Standard-Golfschlägern auf Kunstrasen Golf.
Mein Entschluss, zu laufen, kam plötzlich, unvorbereitet und ohne Trainer. Ich konnte nicht einmal warten, um mich aufzuwärmen. Wie ein Alkoholiker, der sein Bier direkt vor dem Supermarkt trinkt, war ich so ungeduldig, die Straße zu betreten, die mir eine Illusion der Befreiung vermittelte. Weil ich mich nicht aufwärmte, endete dieses neu gefundene Vergnügen für mich sehr schnell; nach ein paar Mal verkrampften sich plötzlich die Muskeln in der Rückseite meines Beins und der Orthopäde verbot mir das Laufen auf unbestimmte Zeit.
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Freiheit ist ein Zustand, genau wie beim Laufen; man setzt sich ein imaginäres Ziel, zum Beispiel von Punkt A nach Punkt B zu kommen, aber das Ziel ist nicht, sich physisch zu bewegen, sondern die Freiheit dazwischen zu erleben; so war es bei mir. Es ging weder um den Rekord noch um die Distanz. Ich bin gelaufen, bis ich nicht mehr konnte. Ich bin gelaufen, bis mir die Puste ausging, bis einer meiner Beinmuskeln oder mein Herz Alarm schlug; ich habe nicht einmal da aufgehört. Ich sagte mir, dass ich noch hundert Schritte weitergehen sollte. Bist du noch am Leben? Du kannst es noch schaffen, noch hundert Schritte. Es ist nicht verwunderlich, dass ich meinem Körper auf so falsche Weise einen solchen Schaden zugefügt habe, eine Art Selbstvergeltung nach der Enttäuschung der Revolution.
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Aber warum der blinde Läufer? Samaneh Ahmadian, die Dramaturgin dieser Aufführung, zeigte mir zuerst das Foto der blinden Läufer neben ihren Begleitern bei den Paralympischen Spielen in Tokio. Zwei Körper mit zusammengebundenen Händen, einer mit verbundenen Augen, der andere mit weit geöffneten Augen, rennen mit aller Kraft. Als ich diese Fotos sah, regte sich etwas in mir. Diesmal hat das Laufen, das für mich schon immer ein Bild der Freiheit war, die Definition von Freiheit noch besser abgerundet. Für einen blinden Menschen mit seinem Blindenführer ist die Freiheit ein kollektives Phänomen. Man kann nicht frei sein, wenn man allein ist. In der Gegenwart der Menge gewinnen die Freiheit und der Kampf um sie an Bedeutung.
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Im September 2022 war Niloofar Hamedi die erste Journalistin, die über den Krankenhausaufenthalt und schließlich den Tod von Mahsa Amini aufgrund einer Schlägerei mit der Sittenpolizei berichtete. Dieser Bericht löste den sozialen Aufstand von »Woman Life Freedom« aus. Niloofar Hamedi wurde wenige Tage nach Erscheinen ihres Berichts verhaftet und befindet sich noch immer ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis. Sie und ihr Mann, der ebenfalls Marathonläufer ist, starteten verschiedene Kampagnen, um die Stimmen der politischen Gefangenen an die Öffentlichkeit zu bringen. So kündigte Nilofar an, jeden Morgen um 8 Uhr von ihrer Zelle aus einen Sonnengruß zu machen oder zweimal pro Woche in Hausschuhen im Gefängnishof zu laufen. Auch ihr Ehemann machte das Laufen außerhalb des Gefängnisses zu einer Kampagne für die Freilassung von Niloofar. Bis heute laufen zahlreiche Läufer bei verschiedenen Marathons für Niloofars Befreiung.
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Zia Nabavi, ein politischer Gefangener, der acht Jahre seiner Jugend in einem der Gefängnisse der Islamischen Republik verbracht hat, schrieb seine Magisterarbeit über »Die Phänomenologie der Gefängniserfahrung«. Für diese Arbeit befragte er Dutzende von politischen Gefangenen, was für jemanden wie mich, der nicht mehr wusste, als was in den sozialen Medien veröffentlicht wurde, sehr aufschlussreich war. In der Einleitung zu seiner Arbeit schreibt Nabavi: »Der Ansatz der ›Positionsmedien‹ (die im Iran stark vom Staat kontrollierten und zensierten Medien) zum Thema Gefängnis basiert auf den Begriffen ›Rehabilitation‹ und ›Bestrafung‹, und der Ansatz der Oppositionsmedien umrahmt das Thema Gefängnis ebenfalls mit den Begriffen ›Folter‹ und ›Repression‹, und deshalb sind beide weitgehend blind für die reale Erfahrung des Gefängnisses.« Er behauptet, dass die Dominanz dieser beiden politischen Ansätze in den öffentlichen Medien dazu geführt hat, dass die Erfahrung des Gefängnisses sehr überraschend und ungewohnt für jemanden ist, der zum ersten Mal mit dieser Erfahrung zu tun hat. »Entgegen der landläufigen Meinung ist das Gefängnis kein Ort ohne jedes Lebenszeichen, sondern es fließt dort eine einzigartige und andere Lebensqualität, die mit der politischen Brille, durch die wir sie zu betrachten gewählt haben, nicht zu verstehen ist.« Die Lektüre dieser dreihundertseitigen Untersuchung war ein Geschenk für jemanden, der einen künstlerischen, humanistischen Zugang zu den politischen Gefangenen sucht. Ich schulde Zia Nabavi mehr als nur eine Flasche Wein.
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Einwanderer fliehen entweder vor Diktatoren, die Marionetten der Weltmächte sind, oder sie fliehen vor der Armut, die aus der jahrhundertelangen Plünderung ihres Eigentums durch Kolonialisten resultiert. Doch die Europäer sind nicht bereit, die Verantwortung für die Destabilisierung des Lebens dieser Menschen zu übernehmen, sondern tun ihr Bestes, um sie in ihre destabilisierten Länder zurückzudrängen. (Lesen Sie einfach noch einmal das Gesetz über illegale Einwanderung, das im März 2023 im britischen Unterhaus beraten wurde: Jeder, der »illegal« einreist, kann kein Asyl beantragen, und der Innenminister hat die Pflicht, ihn abzuschieben.) Infolgedessen bleibt den Einwanderern nichts anderes übrig, als sich auf gefährliche Wege zu begeben, wie zum Beispiel durch den Eurotunnel, durch den alle paar Stunden Züge mit einer Geschwindigkeit von 160 km/h fahren. Wenn sie es nicht schaffen, die 38 Kilometer lange Strecke zurückzulegen, bevor der Hochgeschwindigkeitszug Paris-London durchfährt, bleiben nur ihre Blutflecken an der Wand zurück.
Amir Reza Koohestani
April 2023