Körper der Macht

Anlässlich der Uraufführung von »Oasis de la Impunidad« im April 2022 an der Schaubühne Berlin im Rahmen des »Festival International Neue Dramatik« (FIND) führte der Schriftsteller Joseph Pearson ein Gespräch mit Regisseur Marco Layera und den Dramaturg:innen Elisa Leroy und Martín Valdés-Stauber über die Hintergründe der Produktion.
– 9. Juni 2023

Der kanadische Schriftsteller und promovierte Historiker Dr. Joseph Pearson gibt mit seinen englischsprachigen »Previews« ungewöhnliche Einblicke und Hintergrundinformationen zu ausgewählten Premieren und Produktionen des FIND an der Schaubühne Berlin. Vorliegender Artikel wurde erstmalig im April 2022 in »Pearson’s Preview« in englischer Sprache veröffentlicht. Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung des Autors, seinen Text in deutscher Übersetzung im asphalt-Echoraum zugänglich zu machen.

»Oasis de la Impunidad« ist beim asphalt Festival am 21., 22. und 23. Juni im Weltkunstzimmer zu sehen.

Eines der denkwürdigsten Stücke der FIND 2019, die noch vor der Pandemie stattfand, stammt vom chilenischen Teatro La Re-Sentida: »Paisajes para no colorear« (dt. »Landschaften, die man nicht bemalen darf«). Seine schonungslose Untersuchung von Femizid und geschlechtsspezifischer Gewalt wurde auf der Bühne von jungen chilenischen Frauen im Alter von 13 bis 18 Jahren vorgetragen. Die rohe Emotionalität ihrer Performance ging wie eine spürbare Schockwelle durch das Publikum.

Ein Mengendiagramm aus staatlichen Strukturen, Kapitalismus, Grenzgruppen, geschlechtsspezifischer Gewalt, sowie Körper und Bühne – das ist der Stoff, aus dem das Theater von Regisseur Marco Layera gemacht ist. Er kehrt dieses Jahr mit seiner vierten FIND-Produktion, die zugleich eine Weltpremiere ist, zurück: »Oasis de la Impunidad«. Das Stück ist eine Produktion des Teatro La Re-Sentida und der Münchner Kammerspiele – in Koproduktion mit der Schaubühne und Matucana 100. Außerdem sprach ich mit den Dramaturg:innen Elisa Leroy und Martín Valdés-Stauber, die sowohl in Chile als auch hier in Deutschland zusammengearbeitet haben.

Layera ist umgänglich und zurückhaltend, behält seine Ideen zunächst für sich, ehe er sie lebhaft und sehr wortgewandt artikuliert. Er erzählt voller Emotionen von »Paisajes para no colorear« als der »schönsten Theatererfahrung«, die er je gemacht habe: »Es war ein wichtiger Moment, künstlerische und soziale Praxis zu verbinden, eine Gemeinschaft zu schaffen, zu verändern und mit ihr in Beziehung zu treten.«

Nach der Fertigstellung dieses Theaterprojekts und seiner engen Zusammenarbeit mit jungen Menschen erlebte La Re-Sentida einen erschütternden politischen Moment in Chile, der am 18. Oktober 2019 begann. Dieses Ereignis wird als »Estallido Social«, als »sozialer Ausbruch« bezeichnet. Die Proteste begannen mit einer Reaktion auf etwas so Alltägliches wie die Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr in Santiago und weiteten sich aus, um das Abrutschen des Landes in Richtung Privatisierung und soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Millionen Menschen gingen auf die Straße, und die Regierung reagierte brutal.


Layera erzählt: »Mit diesen Ereignissen ließ man in Chile die Maske fallen. Jeder zeigte, wer er wirklich war. Auch für mich als Künstler war das eine Herausforderung. Bei all diesem Aufruhr auf der Straße – der Körper auf der Straße als Protagonist – stellt man sich als Künstler die Frage: Was macht man jetzt? Die Rezepte und Strategien von früher wiederholen oder die Impulse, die Energie, die einen antreibt, nutzen? Aber selbst wenn wir bei den Ereignissen in Chile ansetzen würden, waren wir nie daran interessiert, das zu wiederholen, was auf der Straße passiert ist. Es wäre unmöglich, ja sogar ethisch verwerflich, es semiotisch oder semantisch zu reproduzieren. Da die Masken gefallen waren, schien bereits alles offen gesagt worden zu sein. Also haben wir versucht, eine eher konzeptionelle, abstrakte Arbeit zu machen, deren Kern der Körper ist.«

Die Ereignisse des »Estallido Social« werden international in Erinnerung bleiben, weil die chilenische Polizei, die »Carabineros«, sehr gewalttätig vorgegangen sind. Human Rights Watch berichtete später, dass zwischen dem 18. Oktober und dem 19. November 2019 etwa 9.000 Demonstranten verletzt und 15.000 festgenommen wurden. Durch den Einsatz von Schreckschusswaffen verloren viele ihr Augenlicht auf einem oder teilweise sogar beiden Augen. Es gab außerdem zahlreiche Berichte über sexuellen Missbrauch, Homophobie und Vergewaltigung während Inhaftierungen.

Marco Layera erzählt mir: »Von diesen Protesten hat ein Bühnenkollege noch die Überreste einer Kugel in seinem Bein. Meine linke Hand war gebrochen …«

Die Ereignisse weckten Erinnerungen an frühere brutale Übergriffe durch chilenische Offiziere während der Pinochet-Diktatur von 1973 bis 1990. Dies hatte in Chile eine Abrechnung zur Folge: Das Land stimmte für eine Verfassungsänderung und setzte eine neue Regierung ein, die seit März 2022 von dem Linken Gabriel Boric geführt wird.

Das Teatro La Re-Sentida wollte nicht nur auf die Erfahrungen seiner eigenen Künstler:innen zurückgreifen und rief zu einer offenen Ausschreibung auf. Von 500 Jugendlichen, die sich beworben hatten, nahmen 200 an einem Theaterlabor teil. Sie bestätigten die Feststellungen der Menschenrechtsbeobachter, dass die Gewalterfahrungen keine Einzelfälle waren, sondern vielmehr systemische, gängige Praxis. Layera erklärt: »Diese jungen Menschen waren die Protagonisten der sozialen Unruhen und 80 Prozent von ihnen hatten Polizeigewalt erlebt. Wir haben auch beobachtet, dass diese junge Generation die Polizeikräfte nicht mehr als legitime Vertreter der staatlichen Autorität wahrnahm. Die Polizei war für sie in einer Weise delegitimiert, wie es bei früheren Generationen nicht der Fall war. All dies hat damit zu tun, dass die Sicherheitskräfte, Militär und Polizei, nach der Diktatur nicht reformiert oder neu aufgestellt wurden. Sie blieben autoritär.«

Ein Bereich, der während des Workshops untersucht wurde, war die Frage, wie es möglich sein kann, dass demokratische Gesellschaften Institutionen beinhalten, die für die Ausübung von Gewalt verantwortlich sind. Layera erläutert: »Praktiken, die das Extrem der Barbarei darstellen, sind in demokratischen Strukturen enthalten, die Zivilität ausstrahlen. Bei einem Ereignis wie einem Protest manifestiert sich diese Barbarei unter dem Deckmantel der Zivilisation. Ich kann Ihnen ein Beispiel geben, das dies verdeutlicht: Ein Polizeibeamter, der bei einer Demonstration in der ersten Reihe steht, trägt eine Waffe. Alle Polizeibeamten sind verpflichtet, Namensschilder an ihrer Uniform zu tragen. Aber dieser Beamte hatte sein Namensschild ausgetauscht und sich in ›Superdick‹ umbenannt. Wie ist dieses Bild zu verstehen? Jemandem, der sich selbst als ›Superdick‹ bezeichnet, wird eine Rolle zugewiesen, die es ihm ermöglicht, mit uns Zivilisten zu machen, was er will.«

»Und dennoch, können Sie sich eine Gesellschaft ohne Rechtsdurchsetzung vorstellen?«, frage ich.

Layera antwortet: »Wir wissen, dass wir Polizeikräfte brauchen. Es gibt eine Beziehung zwischen diesem Bedürfnis und der Tatsache, dass sie auch Feinde sind, Teil einer Kultur der Angst und des Terrors. Jeder von uns fühlt sich terrorisiert, wenn sich ein Polizist nähert. Wenn sie dein Auto anhalten, weißt du, dass etwas Schlimmes passieren wird. Die Frage ist: Gibt es andere Praktiken, die eine Demokratie entwickeln kann, um diese Gewalt anders zu kanalisieren? Damit die Polizei nicht eine fremde Kaste ist? Im Moment ist die hegemoniale Männlichkeit der Maßstab für einen guten Polizeibeamten. Und die implizite Struktur der chilenischen Polizei – und ich würde sogar wagen zu sagen, der Polizei im Westen allgemein – ist rassistisch, klassenorientiert und patriarchalisch.«

Die Dramaturgin Elisa Leroy schließt sich diesen Beobachtungen an und beschreibt, wie sich dies auf der Bühne manifestiert: »Es ist sehr subtil, nur angedeutet. Alle Körper auf der Bühne, sowohl die weiblichen als auch die männlichen, verkörpern diese hegemoniale Maskulinität. Man sieht, wie sie danach streben, wie diese Idee präsent ist, aber auch, wie sie nicht genau mit den Körpern übereinstimmt und imaginär bleibt. Es ist eine anstrebende, beweihräuchernde Männlichkeit. Oder ein Training für eine Männlichkeit, die Macht über andere bedeutet.«

Der konzeptionelle und abstrakte Ansatz von La Re-Sentida basiert auf einer wundersamen Mimesis, aber nicht der Opfer der Straßengewalt, sondern einer Nachahmung der Täter: der Polizisten, einer Nachahmung, durch die wir uns, um es mit Layeras Worten zu sagen, »befreien, eine Katharsis finden und sogar die Sünden der Polizei sühnen können.«

Auf meine Frage, wie wichtig die Traditionen des zeitgenössischen Tanzes für die Inszenierung seien und wie wichtig es sei, eine neue Sprache für die Auseinandersetzung mit dem Thema zu finden, wird mir gesagt, dass es kein Zufall ist, dass zwei Tänzer am Set sind. Sie sind keine Vertreter des zeitgenössischen Tanzes: Einer ist ein Street-Dancer und der andere ein Show-Dancer.

Eine weitere fruchtbare Zusammenarbeit in der Produktion ist eindeutig die der verschiedenen Institutionen – sowohl der chilenischen als auch der deutschen – und ihre Kooperation, um diese internationale Premiere nach Berlin zu bringen, als Produzenten, die sich zu langjährigen Verbindungen bekennen und ihr künstlerisches Vertrauen ausdrücken, indem sie die Show dieser Kompanie produzieren und in ihr Programm aufnehmen.

Schließlich wendet sich Layera an mich und sagt: »Ich glaube, alle künstlerischen Prozesse sind transformativ. Jeder ist davon auf unterschiedliche Weise betroffen. Für mich war ›Paisajes para no colorear‹ sehr transformativ, aber auch hier gibt es eine Transformation. Dieses Werk ist auch eine Sühne, eine Wiedergutmachung. Ein sehr schmerzhaftes Werk. Es ruft einen anhaltenden Schmerz hervor. Wann wird dieser Schmerz verschwinden? Wann wird es in meinem Land Gerechtigkeit geben? Es gilt, eine Schuld zu begleichen.«

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