Regisseur Thorsten Lensing und sein Ensemble aus hochkarätigen Theater-, Film- und Fernsehschauspielern sind absolute Bühnenstars. Für die Produktion »Verrückt nach Trost« hat Lensing Dramaturgie und Bühnenbild bewusst in die Hände von Menschen gelegt, die nicht vom Theater kommen. Hier beschreibt der Autor und Herausgeber Dan Kolber, wie er die Theaterproben erlebt hat: wie sich Menschen in Tiere verwandeln, Erwachsene zu Kindern werden und die Zeit plötzlich langsamer zu vergehen scheint.
– 31. Mai 2023
Wir veröffentlichen an dieser Stelle Auszüge aus dem Essay »Keine geschlossene Welt« von Dan Kolber, erschienen im Programmheft der Salzburger Festspiele 2022 anlässlich der dortigen Uraufführung von »Verrückt nach Trost«. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Dan Kolber.
asphalt hat »Verrückt nach Trost!« koproduziert. Das Stück ist im Rahmen des diesjährigen Festivals am 1. und 2. Juli im Großen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses zu sehen.
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Wenn ein Mensch zum Affen wird, wird die Ordnung der Zeit aufgehoben. Die Evolutionsgeschichte der Menschheit, die auf ihre immer größere Vereinzelung abzielt, erleidet einen Kurzschluss. Eine Entwicklung, die sich über einen Zeitraum von Millionen von Jahren erstreckt, wird in einem Augenblick mit einer Verwandlung aufgelöst.
Das Theater von Thorsten Lensing ist ein Theater der Unmittelbarkeit. Es geht nie nur um Chaos, nie nur um Spaß, nie nur um Genauigkeit, nie nur um menschliche Abgründe, sondern immer um Gegenwart. Dass sie zu retten ist, weil in ihr die Menschen und Dinge frei werden, ist eine der zentralen Erfahrungen, die man in seinen Inszenierungen macht.
Ich selber komme nicht vom Theater, auch die Architekten Gordian Blumenthal und Ramun Capaul haben vor ihrer Zusammenarbeit mit Thorsten Lensing noch nie ein Bühnenbild entworfen. Das ist nicht überraschend: »Keine geschlossene Welt, bitte«, ist die immer wiederkehrende Wunschformel dieses Regisseurs.
Die Theaterproben zu diesem Stück waren meine ersten. Ich sah die Verwandlung von Menschen in Schildkröte und Affe. Ich durfte erleben, wie Ursina Lardi und Devid Striesow immer jünger wurden. Als sie zu Beginn der Proben in die Rollen der Geschwister Felix und Charlotte schlüpften, war vieles schon da, was die Zuschauerinnen und Zuschauer auch heute während des ersten Teils des Abends sehen. Aber das Alter wich erst langsam aus ihnen, Schritt für Schritt und in unerwarteten Sprüngen. Plötzlich standen Dreißigjährige vor uns und spielten die erste Szene, dann wurden sie zwanzig, siebzehn, fünfzehn Jahre alt. Gegen Ende kurz vor der Premiere saß Devid Striesow als Elfjähriger am Boden, die Hände vor sich mit dem fransigen Ende seines Badetuches spielend. Er saß da als Felix und erinnerte sich in vollkommen durchlässigen Worten an Sätze des verstorbenen Vaters, an Sätze, die nun in seinem Mund ein so eigentümliches Gewicht angenommen hatten, dass sie weder schwer zu Boden fielen noch sich leicht in die Luft erhoben, sondern geradeaus in gleichmäßigem Schweben die Vergangenheit in die Gegenwart holten. Selten erlebt man auf eine so eindringliche Weise, dass wir Sätze in uns tragen, die in Wahrheit Zeitkapseln sind. Zeitkapseln, in denen der Moment aufbewahrt wird, da ein bestimmter Mensch sie mit seiner unverwechselbaren Stimme zu uns sprach.
Erinnerung und Unmittelbarkeit, beides gehört wesentlich zum Theater. Mit dem Unsichtbaren leben, Abwesendes in die Gegenwart ziehen, durch Spiel die Gegenwart beleben und sie gleichzeitig aufsprengen, das sind Grundmotive von »Verrückt nach Trost«. Und es ist daran nichts Neues. Es gehört zum Ältesten der Menschheit. Die Lust, sich zu verwandeln, und die Wichtigkeit der Verwandlung spiegeln sich in den ältesten Mythen und Ritualen.
Charlotte und Felix spielen am Strand ihre toten Eltern. Sie ahmen sie nach mit der Genauigkeit des kindlichen Blicks für die Eigenheiten der Eltern und mit einer ausgeprägten Lust an der überspitzten Übertreibung. Wenn sie sie spielen, sind sie so sehr bei den Eltern, dass sie deren Abwesenheit vergessen. Sie leihen ihnen ihren Atem, ihre Körper, damit Vater und Mutter durch sie in die Wirklichkeit zurückkehren. Es gibt keine Einsamkeit mehr. Nicht nur sind die Eltern da, nicht nur sind die Kinder selbst die Eltern, sondern: Dadurch, dass sie die sinnliche Nähe nachahmen können, die zwischen Vater und Mutter bestand, finden auch Charlotte und Felix wieder näher zueinander. Wenn Ursina Lardi am Boden liegt und Tränen weint vor Lachen, während Devid Striesow sie auskitzelt, dann kriegt man einen Eindruck davon, wie sehr dieses Spiel mit der Vergangenheit aufgeht in einem kurzen, flüchtigen Augenblick unbelasteten Glücks. Plötzlich hört man das Lachen der Mutter aus Charlottes Mund. Die Geschwister toben sich in der Erinnerung an Vater und Mutter aus, geraten in eine Ausgelassenheit, die die damalige Ausgelassenheit der Eltern ist. Die Freude der Eltern wird zur Freude der Kinder. Es ist dies die konkreteste Art und Weise, um gegen den Strom der Zeit zu schwimmen. Es ist eine Wiederauferstehung aus Liebe.
Es ist darum umso schmerzhafter zu sehen, wie das Spiel sich in Erinnerung auflöst und zu Ende geht. Es ist etwas anderes, Vergangenheit nachzuspielen, als sich ihrer zu erinnern. In der Erinnerung weiß man, dass der gegenwärtige Augenblick von dem erinnerten für immer getrennt ist. Wenn man spielt, treten Erinnerung und Gegenwart in eins und man kann den Verlust vergessen. In dem Moment, in dem Charlotte als Mutter das Kind – also sich selbst – auf den Schoß nimmt, fühlen wir jedoch, dass sich etwas verändert. Charlotte will aus dem Spiel heraustreten und sie tut dies, indem sie sich von Felix löst. Statt gemeinsame Erinnerungen zu spielen, begibt sie sich immer mehr in ganz persönliche Erinnerungen hinein, Momente der höchsten Intimität zwischen ihr und der Mutter. Aus dem Spiel heraus gleitet Charlotte langsam in die Erinnerung ab, als würde sie die Gegenwart verlassen. Sie spielt nicht mehr die Mutter, sondern hört deren Stimme in ihrem Inneren. Es ist der Augenblick, in dem die Eltern nicht mehr gespielt, sondern als erinnerte Menschen auf der Bühne präsent werden. Galt im Spiel die Regel, dass Vergangenheit und Gegenwart eins waren, so treten die Zeitdimensionen nun wieder auseinander. Das Vergangene ist vergangen, die beiden Kinder sind allein zurückgelassen, die Eltern Erinnerungsmomente in ihnen. Hier wird der Quell gezeigt, aus dem das ganze vorherige Spiel aufgestiegen ist und in den es wieder mündet: die Erinnerung.
Indem Charlotte aus dem Spiel aussteigen will und sich von Felix lossagt, verwandelt sie sich in einen Oktopus. Sie kappt den Bezug zur Vergangenheit, wirft sich mit ihrer geballten Energie und Lebenslust in die Gegenwart.
Die Idee, die Figur der Charlotte als Oktopus weiterzuerzählen, ist nicht das Resultat einer vorher erdachten, begrifflichen Logik, es ist vielmehr der Nachhall des Eindrucks, den die Figur auf uns gemacht hat. Ihr Bedürfnis, allein klarzukommen, das Ungestüme und Vielfältige ihrer Energie wirkten letztendlich so, als strebe sie diese Metamorphose an. Die Verwandlung ist für sie das Naheliegende, aber gleichzeitig der Weg in die Ausweglosigkeit.
Die Dramaturgie des ersten Teils ist eine der Plötzlichkeit. Alles findet an einem Ort statt, der weit, offen und nicht kontrollierbar ist. Die Figuren sind so unberechenbar und unübersehbar wie das Meer, aus dem sie kommen. Sie sind keine Gefangenen unseres Wahrnehmungsvermögens. Dieses muss eher versuchen, ihrer Lebendigkeit zu folgen. Es gibt daher im ersten Teil keine durchgehende, einheitliche Realitätsebene. Alles erscheint in den glühenden, intensiven, grellen Farbtönen der Kindheit.
Eines Tages während der Proben, wir waren im Grunde schon fertig und einige waren schon nach Hause gegangen, verwandelte André Jung sich das erste Mal in einen Affen. Es war die längste Verwandlung, die ich miterlebt habe. Sie dauerte mindestens zwanzig Minuten. Sie begann außerhalb unseres Blickfelds, in unserem Rücken, und kam unerwartet. Wir hatten alle schon darauf gewartet, wann es passieren würde, wann er uns seinen Orang-Utan zeigen würde. Darüber gesprochen aber wurde nicht, den Moment wählte er.
Die Stille war augenblicklich, die Atmosphäre im ganzen Raum – es war ein weiter, hoher Probensaal – war schlagartig eine andere. Vielleicht lag es daran, dass jeder unwillkürlich langsamer atmete. Ich verlor damals jedes Zeitgefühl. Die Zeit des Affen ist eine andere Zeit als die des Menschen: Meine biologische Uhr – von der Zeit der Stunden, Minuten und Sekunden gar nicht zu reden – war auf einmal nicht mehr die dominante, die einzige im Raum. Plötzlich wurden wir alle berührt vom Zeitrhythmus des Affen. Diese andere Zeit im Raum war vielleicht das erste klar erkennbare Zeichen der Verwandlung. Dasselbe Phänomen habe ich später bei anderen Verwandlungen wiedererkannt. Wir Menschen verfügen offensichtlich über ein Organ, mit dem wir die Zeit anderer Lebewesen unbewusst aufnehmen und in uns speichern. Es ist das Erstaunliche an diesen Schauspielerinnen und Schauspielern, dass sie offensichtlich diese verschiedenen Zeiten in sich tragen und gezielt darauf zurückgreifen können.
Als der Orang-Utan dann in unser Blickfeld kam und man ihn das erste Mal in Gänze sah, entstand ein ungeheures Spannungsfeld. Das Realitätsgefühl sackte kurz weg. Es war wie bei einem Vexierbild. Jede Bewegung seiner Arme oder Finger, die ganze Haltung seines Körpers folgte einer Logik, die uns aus diesem Wesen plötzlich entgegenblickte und die keine menschliche mehr war. In keiner Sekunde während dieses Vorgangs fand eine Kommunikation mit André Jung statt, die man selbst verstand. Ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, ihn anzusprechen. Wir waren gebannt von der Aura dieses fremden Wesens und wollten sehen und verstehen, was der Affe als nächstes tun würde.
Devid Striesow saß nicht weit entfernt auf dem Boden, denn letztlich war er es ja, Felix, der den Affen träumte. Es war nicht leicht für ihn, mit André Jung umzugehen. Der Orang-Utan war wild und nicht domestiziert. Nach und nach jedoch wich die Anspannung, sie wurden einander vertrauter. Und als André Jung dann seine zart und gleichzeitig dumpf geneigte Hand zu Devid Striesows Nacken führte und mit seinem gekrümmten Finger zaghaft und doch präzise an dessen Haaren und an seiner Haut spielte, verstanden wir etwas über die Ursprünge unserer Zärtlichkeit und ihre fünf Millionen Jahre alte Geschichte.
Auch bei Sebastian Blomberg war die erste Verwandlung ein besonderes Ereignis. Er verwandelte sich in eine Schildkröte. Als ich diese das erste Mal sah, war ich fasziniert von so viel zärtlicher Langsamkeit. Wie kann ein Mensch sich so entschleunigen?
Aufregend war immer, was die Tiere sahen. Tiere sehen nie das, was die Menschen sehen. Sie haben ganz andere Interessen. Sebastian Blomberg sah in der Tat nie höher als eine Schildkröte. Er sah die Welt von unten: keine Menschen mehr, nur Beine. Man spürte, dass er unmöglich unsere Gesichter sehen konnte. Man bemerkt als Mensch sofort, wenn man nicht mehr gesehen wird. Menschen schauen einander an; die Blicke können wir meistens lesen, fühlen tun wir sie immer. Ich wusste, dass ich mit Tieren im Raum war, als ich spürte, dass ich von manchen Wesen nicht mehr gesehen wurde.
Die Tiere in diesem Stück sind keine Symbole, sie sind vielmehr ein Versuch, der Komplexität der Welt gerecht zu werden ohne Reduktion, ein Abwehrreflex gegen die Neigung, den Menschen in einem leeren Raum zu platzieren und mit Begriffen zu sezieren. Es ist eine Rebellion gegen die Vereinsamung des Menschen, gegen seine Herauslösung aus der Umwelt.
In den Proben wurde das Lachen zu einer wichtigen Kommunikationsform. Die Präzision in der Wiedergabe der Welt wurde durch Freude und Empathie erzeugt. Es war die Freude darüber, dass das, was man sah, fast immer noch um einiges besser war als das, was man sich erhofft hatte. Das Lachen reagierte auf jedes Detail und bestärkte die Schauspielerinnen und Schauspieler in ihren Erkundungen, ohne sie jemals aus der Unmittelbarkeit ihres Spiels herauszunehmen. Die Komik in »Verrückt nach Trost« ist nicht allein Ausdruck von Freude. Sie ist auch eine Art und Weise, mit der eigenen Ohnmacht umzugehen, ein Versuch, sich der Erfahrung zu stellen, dass es Dinge im Leben gibt, die man nicht ändern kann. Sie ist eine Notwehr gegen das Unabänderliche.
Die zweite Hälfte des Abends beginnt wie die erste mit sinnlicher Nähe. Wir sehen die körperliche Vereinigung zweier Männer. Sie sind eng umschlungen und doch sehr weit voneinander entfernt. Neugier und Interesse führen jedoch im Verlauf ihres Gespräches zu Vertrauen. Ob das Vertrauen zu wahrhafter Nähe führt und Felix am Ende weniger einsam ist, bleibt offen.
In der letzten Szene sehen wir Charlotte kurz vor ihrem Tod. Im Altenheim feiert sie ihren 88. Geburtstag zusammen mit einem Pflegeroboter. Der Roboter weiß genau, was er ihr schenken muss. Er hilft Charlotte zu einer Selbstverständlichkeit sich selbst gegenüber, die sie fast ganz verloren hatte. Ihn verstört nichts. Mitten im Gespräch fängt sie an zu jodeln. Er jodelt mit und trifft genau die Töne, die in ihr Glücksgefühle auslösen. Die Spannung und Unausgeglichenheit ihres ganzen Lebens löst sich vor unseren Augen auf.